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Ein zartes Pflänzchen

Dieser Artikel erschien in leicht abgeänderter Fassung am 25.10.2010 in der Süddeutschen Zeitung:

Vor wenigen Tagen standen wir Aufsicht führend auf dem Pausenhof. Wir standen da wie immer, aber wir schauten uns ganz genau und ganz bewusst um. Schließlich hatte die "Deutschenfeindlichkeit" - Debatte auch uns erreicht.
Was wir sahen, waren etwa 300 Kinder und Jugendliche, die saßen, standen, schlenderten oder tobten. Die zerknülltes Papier zu Fußbällen umfunktionierten oder Frisbee mit Papptellern spielten. Die sich wild und eifrig Tischtennismatches lieferten oder diesen Wilden, Eifrigen zusahen. Was wir nicht sahen, waren Gruppen "der Deutschen", "der Russen", "der Türken". Alles hatte sich bunt durchmischt - ob stehend, gehend, spielend.

Nein, wir leben nicht auf der Insel der Seligen!

Wir sind eine Haupt-, halt: Mittelschule in Augsburg, einer bayerischen Großstadt. An unserer Schule haben von den rund 300 MittelschülerInnen etwa zwei Drittel einen Migrationshintergrund, rund 40% davon sind türkischstämmige Muslime.

In einer meiner letzten Ethikgruppen - die Christen gehen in den katholischen, evangelischen oder syrisch-orthodoxen Religionsunterricht hatten wir drei Weltreligionen versammelt: jede Menge Muslime, daneben einen Hindu, zwei Buddhisten, drei Bekenntnislose. Die Unterrichtsstunde, in der sie sich gegenseitig berichteten, was sie an ihrer eigenen Religion wichtig oder unwichtig fanden, zählte zu den schönsten, die ich in diesem Fach erleben durfte. Sie hörten sich gegenseitig zu, waren erstaunt oder eben auch nicht und stellten nicht wenige Gemeinsamkeiten fest. Keiner kam auf die Idee, die Religion des jeweils anderen zu verspotten. Keiner machte sich lustig, diskriminierte.

Nein, wir leben nicht auf der Insel der Seligen!

Es gibt ständig etwas zum Sich-Ärgern, zum Sich-Empören, zum Einschreiten, zum Schlichten. Es schweben weder Schüler noch Lehrer mit verklärtem Gutmenschenblick durch die Gänge. Es gibt Konflikte mit gleichgültigen Eltern und mit solchen, die ihre Kinder bei Fehlverhalten prinzipiell in Schutz nehmen. Konflikte auch, weil viele unserer SchülerInnen Pünktlichkeit, Arbeitseifer und Durchhaltevermögen nicht erfunden haben. Aber all dies erleben wir gemischt. Die Unzuverlässigen gibt es in jeder Ethnie und jeder Religion. Eltern, die ihre Kinder vernachlässigen oder sich in die eigene Tasche lügen, ebenso. Auch bei denen, die echtes Interesse an der Bildung ihrer Kinder zeigen, die freiwillig etwas tun, die sich engagieren - z. B. Schulfeste mitgestalten - , sind alle vertreten. Auch die Türken, auch die Muslime!
Wenn ich an unserer Schule eine Umfrage zur Deutschenfeindlichkeit machen würde, bekäme ich mit schiefem Grinsen von manchem Deutschen zu hören:
"Ja, der ist immer so gemein zu mir." Im nächsten Moment würden er und der junge Türke / Vietnamese / Albaner neben ihm sich gegenseitig freundlich in die Seite stoßen und beide würden lachen.

Gerade heute erst schauten wir einen Film über Mutter Teresa an. Am Ende winkte mich ein türkischer Muslim zu sich: "Im Film haben die gesagt, dass Muslime und Hindus nicht zusammenpassen. Tun sie aber doch." Er wies auf seinen Banknachbarn, einen indischen Hindu, mit dem er sich gut versteht.
Eine deutsche Schülerin verriet mir kürzlich lachend, dass sie diese Schule liebt und sich nicht vorstellen kann, sie zu verlassen. Zu gut versteht sie sich mit ihren Freundinnen, einer Halbrussin und einer Halbungarin.
Vor ein paar Tagen hat der Russlandaussiedler Anton dem neu zugezogenen Muslim Ali die Schule gezeigt. Dies war für ihn kein Akt der Barmherzigkeit, sondern eine Selbstverständlichkeit.
In meiner letzten Klasse saß die Türkin neben der Deutschen, der Serbe neben dem Türken, der Deutsche neben dem Albaner. Sie standen in gutem Kontakt zueinander, manchmal in zu gutem.

Ja, Augsburg ist nicht Berlin oder Essen. Und bei uns besuchen nicht sehr viele Türken die Schule gemeinsam mit sehr wenigen Deutschen. Dennoch ist uns dieses Miteinander nicht vom Himmel geschickt worden, sondern das Ergebnis konsequenten Bemühens. Auch wir haben Rückschläge zu verzeichnen und mühen uns gegenzusteuern. Dies macht Arbeit, kostet Energie - und setzt den klaren Willen zur Integration voraus. Natürlich will ich den Schulen, die Deutschenfeindlichkeit beklagen, nicht unterstellen, sie seien selbst schuld an der Situation, das wäre vermessen. Aber ich will ganz klar sagen, dass es an unserer Schule, die eben auch eine Brennpunktschule ist, nicht russen-, türken-, deutschenfeindlich zugeht. Und ich bin sicher, dass es viele Schulen wie unsere gibt, wo dieses konsequente Bemühen alltäglich stattfindet.

Apropos konsequentes Bemühen: In unseren Arbeitsgemeinschaften verbindet die Schüler das gemeinsame Interesse an der Sache. Und die unterschiedliche Kultur trennt sie nicht. Schulspiel, Streitschlichter, Schulsanitätsdienst, Schülerlotsen, Schülerzeitung, musisches Werken, gesunde Ernährung, Basketball, Fußball, Badminton ... - wer gemeinsam etwas Schönes oder für sinnvoll Erachtetes am Nachmittag betreibt, denkt nicht mehr an die Unterschiede. Wer gemeinsam in der Kälte als "Straßenkind für einen Tag" leidet, wer gemeinsam an Wettbewerben teilnimmt, gemeinsam einen Film dreht, gemeinsam das Schulhaus oder den Pausenhof verschönert, für den verliert das Trennende an Bedeutung. Der kann sich sogar freuen, wenn ein stiller, unscheinbarer Mitschüler, der nicht der eigenen Ethnie angehört, plötzlich etwas kann, was keiner ihm zugetraut hatte.

Als die Neuntklässler des letzten Schuljahres unter meinen Fittichen das Buch "Heaven, hell & paradise" schrieben, wurde uns - mir und den SchülerInnen - plötzlich bewusst, dass von den 26 AutorInnen nur vier deutschstämmig waren. Für einen kurzen Moment machte sich unter den 22 Migranten so etwas wie eine leicht überhebliche Stimmung der Stärke breit. Ach, ihr Deutschen, so wenige seid ihr nur noch! Ich erinnere mich gut, wie ich eine Sekunde lang die Luft anhielt: Würde es jetzt ins Ungute umkippen? Tat es aber nicht. Noch heute erzählen mir diese meine Ehemaligen, dass sie "die Klasse" so vermissen. Und damit meinen sie wirklich die ganze Klasse. Gerade über diese SchülerInnen habe ich dank ihrer Texte und der sich daraus ergebenden Gespräche viel erfahren. Zum Beispiel, dass die große Schwester meiner sehr modernen und selbstbewussten muslimischen Schülerin S. Kopftuch trägt. Dass sie und die Mutter - ebenfalls sehr modern - dies in Toleranz hinnehmen. "Warum sollten wir ihr ihr Kopftuch mies machen? Das ist doch ihre Sache." Erfahren auch, dass alle schon oft Diskriminierung erdulden mussten, aber noch viel öfter nettes, freundliches Verhalten erfahren haben. Nie erzählten sie: "Die Deutschen waren so aggro." Sondern: "Dieser Mann sagte, Scheiß Ausländer!' zu mir." Erfahren schließlich auch noch, wie sehr manche der muslimischen Mädchen unter den Einengungen leiden, die ihnen ihre an der Tradition orientierten Eltern zumuten.
Doch gerade dies alles macht mir Mut. Viele der jungen Migranten leben nicht einfach dumpf vor sich hin. Nein, sie reflektieren den Spagat, dem sie ausgesetzt sind, manche leiden auch darunter - und ich bin sicher, sie werden es mit ihren Kindern anders machen. Wer nur über die Starrheit der Eltern- und Großelterntradition lamentiert, übersieht die Bewegung, die von der jungen Generation ausgehen kann. Aber nur, wenn man ihr das Gefühl nicht nimmt, hier in diesem Lande willkommen zu sein! Ein kostbares Pflänzchen ist diese Bewegung - und ein zartes. Wer sich laut über "die Türken", "die Muslime" auslässt, stößt auch die zurück, für die Integration längst eine Selbstverständlichkeit ist.

Ich finde, das zarte Pflänzchen sollte gehegt und nicht zertreten werden.

H. Brosche